Ein persönliches Erlebnis zum Gedicht

(aufgeschrieben von Elfriede Wagner)

Wo auf hohen Tannenspitzen ...

Wie es kam, dass ich damals von Julius Mosen so gut wie nichts wusste, ist schnell erklärt. Ich bin in der Nazizeit in die Schule gegangen (1932-1936 Volksschule, 1936-1944 Gymnasium). Mosen stand unter dem Verdacht, Jude zu sein; er war für den Schulunterricht wahrscheinlich verboten, mindestens unerwünscht. Nur in der Sechsia (unterste Klasse im Gymnasium), also bei mir 1936, hatte der Herr Studienrat bei uns dieses Gedicht Mosens behandelt. Danach habe ich acht Jahre lang nie wieder von diesem Dichter gehört.

Nach dem Abitur im Februar 1944 begann für uns die Zeit im Reichsarbeitsdienst, zu der wir einberufen wurden, also verpflichtet waren. Mein Einsatzort war Breitenmarkt in Ost-Oberschlesien, eigentlich in Polen. Erst im September 1939 von den Armeen Hitlers überfallen und anschließend "eingedeutscht" [darunter ist zu verstehen: In die größten Bauernhöfe wurden deutsche Bauern gesetzt, nachdem die polnischen Bauern vertrieben worden waren. In Breitenmarkt waren es zwei Bauern aus Westfalen]- da kann man die Stimmung der Bauern sich gut vorstellen.

Sie zeigten offen ihren Hass. Wir Arbeitsmädchen waren in der Woche täglich von acht Uhr bis sechzehn Uhr im Einsatz. Bäuerin, Magd und Knecht sprachen nur Polnisch. So lernte ich damals nicht nur schwerste Landarbeit kennen, sondern dort entstand auch meine Liebe zu meiner deutschen Muttersprache. Acht Stunden täglich kein Wort Deutsch! Das war eine Qual.

Im Sommer 1944, als die Heidelbeeren reiften, wurden wir sonntags (!) in den Wald gefahren zum Beerenpflücken (die Beeren waren, in Gläser eingetaucht, fürs Lazarett bestimmt). Heidelbeeren in den Wäldern Polens waren so groß wie Erbsen, die Sträucher etwa vierzig Zentimeter hoch. Man musste sich nur einmal kauern oder setzen und alles rundherum abpflücken, und schon war das Körbchen voll.
So hatten wir dann immer eine schöne, lange Pause, bis der Lkw für die Heimfahrt kam. Die meisten Maiden nutzten diese Zeit zum "In-den-Mund"-Pflücken. Ich war bekannt als Einzelgängerin, vom Heimweh so belastet, dass sich niemand gern mit mir abgab. Also ging ich ein paar Schritte zur Seite, suchte mir im Wald einen Platz, wo der Sonnenschein bis zum Boden reichte, und legte mich dort ins Moos. Ich konnte in die Wipfel und bis in den Himmel schauen, und dabei fiel mir ein: Zu Hause ging solches nicht, zu Hause, im Vogtland, stehen Fichten, und die lassen die Sonne nicht bis zum Waldboden durch, die stehen eng, zu Hause die Fichten und Tannen ...

Da kam es aus dem Gedächtnis hervor:

»Wo auf hohen Tannenspitzen,
die so dunkel und so grün,
Drosseln gern verstohlen sitzen,
rot und weiß die Moose blühen.
Zu der Heimat in der Ferne
zög´ ich heute noch so gerne.«

Aber es kam nicht allein Mosens Gedicht, es kam mir, die ich mich immer so verloren in der Fremde gefühlt hatte, der Gedanke:

Es gibt noch das Vogtland,
es gibt noch die Heimat.
Du bist nicht verloren.
Du wirst die Heimat,
den Vogtlandwald, wiedersehen.

Das Gedicht Julius Mosens hat also eine wichtige Rolle in meinem Leben gehabt in einer Zeit, die ich rückblickend die schwerste meines Lebens nenne.

(Elfriede Wagner, 2017)

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